Solly, Henry (1813-1903)

 

Ein gut aussehender Mann. Energisch blickt er drein, fixiert das Kameraobjektiv. Man sagt über ihn, dass er rastlos wäre, stets voller Energie und manchmal etwas aufbrausend. Ja, so wirkt er auf mich. Dieser Henry Solly, der einen ganz anderen Lebensweg wählt, als der, der ihm eigentlich vorgezeichnet wurde.

Henry ist der jüngste Sohn seiner Eltern. Seine Mutter ist bei der Geburt schon 42 Jahre alt und seine Schwester Elizabeth hatte gerade ihren 17. Geburtstag gefeiert. Dann sind da noch Isaac und Samuel, zwei ältere Brüder, die eines Tages im Chefsessel der Firma sitzen werden. Was für Henry keine Bedrohung ist, denn der Firma geht es prächtig. Dort ist für alle Platz, sei es in London, Berlin oder Stockholm. Und so wächst Henry gut versorgt auf. Er besucht teure Schulen, wird bestens erzogen, hat Zugang zur Bildung, zur Kultur und sieht bedeutende Männer im Elternhaus ein und aus gehen, die den geschäftlichen Rat seines Vaters suchen. Zumindest was die äußeren Umstände angeht, wird seine Kindheit und Jugend sorgenfrei gewesen sein. Und alles spricht dafür, dass die Familie auch im Inneren funktionierte, denn sie war erstaunlich offen und tolerant. Man gehörte zwar eindeutig zur ‘upper class’, war sich aber stets bewusst, dass es sehr viele Menschen gibt, die ein deutlich härteres Leben hatten.

Anders lässt es sich nicht erklären, dass man der Tochter Charlotte erlaubte, sich intensiv mit Fragen der Gesellschaftspolitik zu beschäftigen. Sie wurde eine führende Feministin ihrer Zeit, kämpfte für das Frauenrecht auf Londons Straßen. Mag sein, dass Henry sich an ihr orientierte, denn auch er geht einen anderen Weg, als man vermuten könnte. Zunächst besucht er das University College London (UCL) in der Gower Street, um dort Mathematik zu studieren. Heute ist das UCL eine der angesehensten Universitäten der Welt. Dann versucht er in der väterlichen Firma Fuß zu fassen. Er bemüht sich, ein guter Mitarbeiter zu sein, aber es will nicht recht gelingen. Schließlich wagt er den Schritt, seiner inneren Stimme zu folgen, wenn die ihn auch erst einmal im Ungewissen lässt, wo es hingehen soll.

Mit 27 Jahren wird er Mitglied einer Kirche, den sog. Unitaristen. Man lehrt dort radikale reformistische Inhalte, schwimmt also kräftig gegen den Strom. Für Henry ist das nur eine kurze Durchgangsstation. Er landet schnell bei den Chartisten, der britischen Arbeiterbewegung. Dort fühlt er sich wohl, wünscht sich an der Umsetzung ihrer Ideen aktiv mitzuwirken. Das ist eigentlich seltsam, denn es geht hier um die ärmeren Menschen, die keine Universität besuchen konnten und lebenslang hart arbeiten müssen. Henry wird zum Streiter für die Rechte der ‘lower class’. Er fordert freie Ausbildung für alle, stemmt sich gegen die Ausbeutung von Arbeitern, tritt für ein allgemeines Wahlrecht ein und verlangt die Errichtung von Museen mit freiem Eintritt für jedermann. Er will die Werte, die er ganz selbstverständlich in seinem Elternhaus erhielt, für alle einfordern. Sein lebenslanges Motto lautet: education, recreation and temperance. Er fordert also freien Zugang zur Bildung und zur Kultur. Außerdem erwartet er von den Menschen ein gutes Maß an Selbstbeherrschung, an Mäßigung. Er selbst war ein überzeugter Abstinenzler und er mochte es nicht, wenn Männer zu viel Alkohol tranken. Gleichwohl konnte er die Gründe durchaus verstehen.

 

Working Men Club

Es gibt viele Artikel über sein Leben zu lesen, er selbst hat auch Bücher geschrieben, in denen er seine Philosophie darlegt. Zwei Orte will ich noch erwähnen, denn die kenne ich gut. Im Rahmen der ‘working men clubs’, die Henry Solly ins Leben rief, besuchte er oft das Büro der Union im Strand No 150. Diese Clubs hatten ähnliche Aufgaben wie der deutsche Arbeiterbildungsverein. So wie die Gentlemen ihre Clubs in St James’s hatten, so sollten die Arbeiter einen Treffpunkt haben, wo sie sich austauschen konnten und wo sie Hilfe erfuhren. Weiterhin lag es Henry sehr am Herzen, dass auch arme Menschen Zugang zur Kunst haben. Und so setzte er sich nicht nur für den kostenfreien Besuch von Museen ein, der noch heute in London üblich ist, sondern gründete auch erstmalig Kunstakademien für Menschen aus der Arbeiterklasse. Eine der Ersten war das ‘Artisan Institute’ in der St Martin’s Lane. Und die führt an der gleichnamigen Kirche am Trafalgar Square vorbei.

Henry Solly war ein bemerkenswerter Mann, der viel für die Klassengerechtigkeit getan hat. In seinen Büchern setzt er sich für einen humanen, gerechten Kapitalismus ein. Er scheint oftmals seiner Zeit voraus zu sein, denn die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist für ihn genauso wichtig und erstrebenswert wie die zwischen Arbeitern und Akademiker oder Angehörigen der Adelsschicht. Er verfügte über einen aufgeklärten Geist, war aber doch ein schwieriger Mensch im täglichen Umgang. Er taugte nicht zur Zusammenarbeit, war ein Autokrat und konnte durchaus arrogant auftreten. Einem Streit ging er nicht um jeden Preis aus dem Weg. Dazu kam ein aufbrausendes Element, manche sprechen von Jähzorn, was vielleicht auch die Mitarbeit im väterlichen Unternehmen unmöglich gemacht hatte. Solly brauchte ohne Frage viel ‘frische Luft’ und ein weites Spielfeld. Andererseits bestätigen ihm viele, dass er seine innere Unruhe, die Rastlosigkeit, immer uneigennützig für das Wohl der Anderen einsetzte. Er war ganz sicher ein hart arbeitender Idealist und hatte in seiner politisch ähnlich denkenden Schwester einen wichtigen Fixpunkt in seinem Leben. Ich vermute, sie wird ihn kritisiert haben, falls es einmal nötig war. Für die Familie Solly spricht, dass man diese Kinder, die einen ganz eigenen Lebensweg einschlugen und lebten, nicht verbannte. Man war gewiss nicht immer einer Meinung, aber das konnte man offensichtlich aushalten. Das ist keine Selbstverständlichkeit und funktioniert nur, wenn alle respektvoll miteinander umgehen. Die gegenseitige, ehrliche Wertschätzung ist vielleicht der Schlüssel zum Glück.

 

In der St Martin’s Lane ist das London Coliseum zu finden. Eines der vielen Häuser, wo abends weltbekannte Künstler auf der Bühne stehen. Riesiger Zuschauerraum und trotzdem jeden Abend ausverkauft. Wir sind hier mitten im West End.