Peters, Nikolaus (1808-1890)

Geboren wurde er am 7. September 1808 in Altona. Stimmt das? Ja, jedenfalls für mich. Denn genauer wissen wir es nicht. Das Kind wurde am 13.10.1808 im Bollmannshof, Altona, gefunden. Man schätzte das Alter des Säuglings auf ca. 5 Wochen. 

Eigentlich weiß ich gar nichts über diesen Urahnen und das liegt nicht alleine daran, dass er gut sechzig Jahre vor meiner Geburt gestorben ist. Er ist mein Ur-Ur-Großvater und er hat immerhin die Geburt seines Enkels John, der mein Großvater war und bei dem ich aufwuchs, miterlebt. Zwei Jahre später starb Nikolaus im recht hohen Alter von 81 Jahren. Also wird sich mein Großvater auch nicht an ihn erinnert haben, aber die Geschichte des Vorfahren ist eine besondere und ich will sie erzählen und damit festhalten. Ich vermute, die unbekannte Herkunft von Nikolaus Peters wurde als schamvoll empfunden. Der Urahn, der Stammvater der Familie Peters, war ein Findelkind. Eines Tages, es war ein Donnerstag, fand man ihn in Altona. Vermutlich in ein Tuch gewickelt, denn es war schon Mitte Oktober, also kalt, und man hatte das Bündel unter einem Busch am Wegesrand gefunden. Die bereits verfärbten Blätter sollten ihn vielleicht ein wenig Schutz bieten, falls es regnen sollte. Zum Glück wurde er rechtzeitig entdeckt und ins Waisenheim gebracht. Dort war es wenigstens trocken, aber ansonsten wohl eher kalt und dunkel.

Wie Findelkinder ihren Namen bekommen

Meine erste Frage stellte sich mir bezüglich seines Namens. Seinen Vornamen Nikolaus werden sich die Betreuer im Waisenheim überlegt haben oder man nutzte die Vornamen der ‘Gevattern’, die seine Taufe begleiteten und bezeugten. Sicherlich fremde Menschen, die in einem solchen Fall einspringen. Wohl eher ein Verwaltungsakt des Waisenheims, damit das Findelkind überhaupt erst einmal ‚offiziell‘ wird. Die Taufe fand am 19. Oktober 1808 statt, also fünf Tage nach dem Auffinden des Säuglings. Nun hatte er seinen Namen bekommen: Nikolaus, Gottlob, Hinrich.

Das einzige Foto, das Nikolaus Peters zeigt. Ein Glücksfall, dass es noch existiert.

Es gibt gleich zwei Urkunden über das Kind, die sich bezüglich seines geschätzten Alters widersprechen. In der einen Urkunde schätzt man sein Alter auf ca. fünf Wochen, in der anderen auf ca. fünf Tage. Ein Gefühl sagt mir, dass er fünf Wochen alt war und dass es sich bei der anderen Angabe um eine Verwechslung mit dem Taufdatum handelt. Denn dieser Akt fand tatsächlich fünf Tage nach seinem Auffinden statt. Ich stellte mir die Frage, warum die Mutter das Kind ausgesetzt hat. Die Antwort ist einfach, natürlich aus Not. Sie wird keine Möglichkeit gesehen haben, sich und das Baby zu ernähren. Aber warum entschließt sie sich erst nach fünf Wochen zu dem extremen Schritt? Ein Blick auf das Datum könnte die Antwort sein: Es ist schon Oktober. Es wird kalt draußen und die Ernte ist längst eingefahren. Da hängen keine Äpfel mehr an den Bäumen und das Zimmer, oder wo immer sie schläft, ist nun auch tagsüber kalt. Das dünne Wolltuch, das sie vielleicht hat, wird in der feuchten Luft klamm. Da kann kein Säugling lange überleben. Vor allem nicht, wenn er alleine zurückbleibt, weil man selbst schon morgens früh in die Fabrik oder auf den Markt gehen muss.

Ich habe mich lange mit der Zeit beschäftigt, als Nikolaus geboren wurde. Es war Besatzungszeit, die Franzosen hatten Hamburg eingenommen. Jeder, der eine Wohnung hatte, egal wie klein, und sei es nur ein Zimmer, war verpflichtet, einen der Besatzungssoldaten aufzunehmen. Weil Hamburg sich kampflos ergeben hatte, war Napoleon mit seinen starken Truppen weitergezogen. In der Stadt blieben verbündete Spanier zurück, die keine Kampferfahrungen hatten, aber für Ordnung sorgen sollten. Sie waren bei der Bevölkerung recht beliebt, denn sie waren freundlich, lebenslustig und sehr kinderlieb. Kann es sein, dass mein Ur-Ur-Großvater Nikolaus das fast unvermeidliche Ergebnis dieser Einquartierung war? Es würde erklären, warum in den nachfolgenden Generationen immer wieder mindestens ein Kind auftaucht, das ungewöhnlich schwarze Haare und Augen hat. Sie alle sehen sich ähnlich, sind attraktiv, wirken südländisch und unterscheiden sich deutlich von ihren Geschwistern. Die haben nämlich wasserblaue Augen und hellbraune Haare. Ihnen glaubt man sofort, dass die Herkunft ihrer Ahnen irgendwo in Dithmarschen zu finden ist.

Zurück zur Ausgangsfrage nach dem Namen. Ich weiß noch nicht einmal, welcher Name der Rufname war, vermute aber mal, dass man ihn Klaus genannt hat. Vielleicht auch Nikolaus oder Heinrich? Dann wohl eher Hinnerk. Sein mittlerer Name ist in unserer Familie ganz ungebräuchlich. Egal, ob Gottlob oder Gottlieb, was auch in Dokumenten auftaucht, beides taucht in unserer Familie nicht auf. Seinen Sohn nannte ‚Fritz, Jakob, Adolf‘, was nicht weiterhilft. Vermutlich gab es weitere Kinder, darunter wohl auch einen älteren Bruder, der den Vornamen des Vaters bekommen hatte. So jedenfalls war es damals üblich.

Interessanter ist aber der Nachname ‚Peters‘. Der ist nicht gerade ungewöhnlich, aber warum hat man ihn gewählt? Dazu gibt es einen Hinweis in den Unterlagen des Waisenhauses. Man hatte das Kind zunächst den Nachnamen ‘Haselbusch’ gegeben. Das hatte man von seinem Fundort abgeleitet. Der Kleine war unter einem solchen Busch abgelegt worden. Der Name hätte mir gefallen, so würde ich mich gerne nennen. Aber es sollte nicht sein. Stattdessen wurde ‘Peters’ gewählt und nun kann ich mich damit abquälen. Damit meine ich nicht den Namen, denn der ist höchst unauffällig und neutral, aber wer jemals im Internet nach Ahnen geforscht hat, wird wissen, wie hinderlich ein Allerweltsname sein kann. Da wäre ‘Haselbusch’ eine grandiose Hilfe, aber es sollte nicht sein.

 

Hamburger Adressbuch von 1847

Weil ich so gar nichts über meinen Ur-Ur-Großvater weiß und auch keine Chance habe, jemals irgendwelche Vorfahren zu finden, bin ich über jeden anderen Hinweis froh. Einer fand sich im Adressbuch. Dort las ich diese Einträge:

  • Peters, Heinr. Gottlieb, geräucherte Fische, Kattrepel unt. no 3
  • Peters, Heinr. Gottlieb, Schuhmachermeister, Kajen no 41
  • Peters, H. N. Schuhmacher, Steinstr. no 132

Keine Frage, das ist er, der Schuhmachermeister. Dass allerdings zwei Männer, die gleichen Vornamen tragen, die in Hamburg eher unüblich sind, ist auffallend. Der Verdacht liegt nahe, dass der Fischhändler mit dem Schuhmacher verwandt ist. Das könnte dann nur eine Vater – Sohn Beziehung sein. Und auch der dritte ‘Peters’ passt als Sohn gut ins Bild, denn auch er ist Schumacher und dann passen auch seine Vornamen ‘Heinrich Nikolaus’. Vielleicht lässt sich dazu noch einiges herausfinden. Immerhin hat mir meine Tante Ingrid, die bereits 1924 geboren wurde, bestätigt, dass Nikolaus Peters mehrere Kinder hatte. Sie konnte mir aber keine Namen nennen, obwohl es sich um ihren Urgroßvater handelte. Die Kinder waren also ihre Großtanten und -Onkels. Mir scheint hier eine bewusste Geheimniskrämerei entstanden zu sein. Die Tatsache unbekannter oder auch nur unehelicher Herkunft zu sein, galt als peinlich und wurde deshalb oftmals verschwiegen. Selbst Männer wie unser Alt-Kanzler Helmut Schmidt, dessen Persönlichkeit bis ins hohe Alter als vorbildlich galt, hat bei der Frage nach seinem Vater, mit unbekannter Herkunft, stets sowohl verärgert als auch leicht beschämt, geschwiegen. Für mich erklärt sich, warum ich selbst nie meine Verwandten kennengelernt habe. Meine Cousinen, die in derselben Stadt leben wie ich, habe ich seit der Kindheit nie wieder gesehen. Und damals auch nur an ausgesuchten Feiertagen, wenn es sich gar nicht anders arrangieren ließ. Dasselbe gilt natürlich für deren Eltern, also meine Tanten und Onkels. Inzwischen dürfte keiner mehr am Leben sein, die Chance ist vertan. Wer weiß, ob es anders besser gewesen wäre?

 

Diese Häuser standen schon zur Lebzeiten von Heinrich Gottlieb Peters. Es sind die letzten alten Hamburger Bürgerhäuser in der Deichstrasse. Auf der Giebelwand lesen wird die Jahreszahlen: 1698 und 1887. Peters wohnte im Kajen 41 und das ist genau die Ecke zur Deichstrasse, etwa die Stelle an der ich beim Fotografieren stand. Ich vermute, dass er seine Werkstatt in der Steinstrasse hatte.

 

 Der Taufschein

Eines der wenigen Dokumente, die ich lesen konnte und die über Nikolaus Peters Auskunft geben, ist sein Taufschein. Die Zeremonie fand, wie bereits erwähnt, fünf Tage nach seinem Auffinden statt. Ich denke, man hat sie im Waisenheim durchgeführt, vermutlich gab es dort eine Kapelle. Auf jeden Fall fand die Taufe an einem Dienstag statt und nicht etwa an einem Sonntag. Also waren wohl keine Gäste, außer den notwendigen Paten, anwesend. Wen hätte man auch einladen sollen?

Es gibt, wie vorgeschrieben, drei Taufpaten, sogenannte ‘Gevattern’. Es ist üblich, dass man deren Vorname für das Kind übernimmt. Aber nicht als Rufname, denn den bekommt es vom Vater oder Großvater verliehen. Das gilt allerdings nur für die erstgeborenen Söhne und analog auch für die Töchter.

Seine Paten (Gevattern) waren:

  1. Friedrich Nicolaus Dede
  2. Gottlob Friedrich Pin(c)kvoss
  3. Johann Hinrich Schmidt

Hier wurden also alle drei Vornamen des Täuflings von den Paten übernommen: Nicolaus Gottlob Hinrich. Damals gab es eine Buchhandlung bzw. einen Verleger in Altona, der den Namen Pinkvoss trug. Die beiden anderen sind schwerer zu identifizieren. Alle drei sind vermutlich ehrenamtliche Mitarbeiter des Waisenhauses und haben sich für die Taufe zur Verfügung gestellt. Ob der kleine Junge sie jemals in seinem Leben wiedergesehen hat, ist eher unwahrscheinlich, kann aber nicht ausgeschlossen werden.

Im Taufschein wird der Name ‘Gottlob’ geschrieben, in späteren Dokumenten unterschreibt Nikolaus Peters mit dem Namen ‘Gottlieb’. Das können durchaus Schreibfehler sein, die ich überraschend häufig in kirchlichen Urkunden gefunden habe. Selbst dann, wenn die Einträge vom Vater selbst (Pastor Griebel) gemacht wurden, änderte sich die Schreibweise der Namen seiner Kinder und sogar Ehefrau permanent. Vielleicht nahm man es nicht so genau, vielleicht wusste es niemand genau oder lag es einfach nur am Messwein? Ich finde es eigentlich ganz sympathisch, wenn nicht alles in Stein gemeißelt ist. Warum nicht einfach mal den Vornamen ändern, das machen wir doch auch und denken uns neue Kosenamen aus.

 

Anmerkung

Als ich vor fast zwanzig Jahren erstmals meine familiäre Herkunft erforschte und realisierte, dass es mit einem Findelkind anfing, war ich von der Geschichte sehr berührt. Vorher hatte nie jemand davon gesprochen. Was meine Vermutung bestätigt, dass man es absichtlich verschwieg. Erst nach dem Tod meines Vaters, fand ich Familiendokument, die die wahre Geschichte von Nikolaus Peters enthielten. Leider waren es nur wenige Dokumente mit den paar Daten, auf die ich aufbauen musste. Wir hatten gerade Oktober und ich stellte mir vor, wie sich damals, im Jahr 1808, die Mutter des kleinen Säuglings gefühlt haben mag. Heute, als ich die Geschichte erneut aufschrieb, haben wir wieder Oktober. Und wieder gehen meine Gedanken an das Findelkind und an die mir nicht bekannte Mutter. Ich fühle mich mit ihr verbunden, bin ihr dankbar, denn hätte sie sich nicht für das Weiterleben ihres Kindes entschieden, wäre der Faden schon damals gerissen. Das unsichtbare Band, an dem alle Generationen hängen, wie an einer Nabelschnur. Einmal durchschnitten, fällt alles, was danach geboren wird, ganz unspektakulär ab. Es verschwindet ins Nichts, wird nie zur Welt kommen und nie die Chance haben, der unendlichen Familiengeschichte ein weiteres Kapitel hinzuzufügen.

 

 

Wer anfängt, sich für seine Vorfahren zu interessieren, schaut anfangs von Generation zu Generation zurück. Freut sich, wenn ein besonderer Mensch darunter ist. Hoffentlich einer, der in Büchern Erwähnung gefunden hat, auf den man stolz sein kann. Oder man ist enttäuscht, wenn die Linie in eine bäuerliche Gesellschaft führt, wo das Leben des einzelnen Menschen in keinem Dokument erwähnt wurde. Da versickert dann die Spur, vermischt sich mit vielen Strängen, die nicht mehr individuell auseinandergehalten werden können. Stets muss so genau wie möglich arbeiten, sich von Sohn zu Vater vorantasten, um auch nur halbwegs sicher den Weg durch die Zeit zu finden. Aber wenn es geschafft ist, dann tut es gut, einen Schritt zurückzugehen. Anstatt den einen Ahnen, der berühmt wurde, im Blick zu halten, ist es viel überwältigender, wenn man sich die ganze Familie vorstellt. Die unzähligen Verwandten mit ihren angeheirateten Partnern. Die Kinder, die geboren wurden und von denen oft nicht einmal die Hälfte die ersten Jahre überlebten. Und dann begreift man plötzlich, wie viele Menschen vor einem diese Welt betreten haben, die alle in direkter Linie mit einem verwandt sind und irgendwie wohl ein Stück ihres eigenen genetischen Codes vererbt haben. Diesen besitzt man jetzt und soll ihn weitergeben. Es erinnert ein wenig an den stolzen Fackelträger, der die Flamme empfängt, behütet, fortträgt und schließlich weiterreicht. Wem das zu poetisch ist, dem biete ich einen anderen Gedanken an. Man kann es drehen und wenden, aber eines ist klar, wir haben alle dieselben Ur-Eltern. Und sollten diese Ur-Ahnen nicht massenhaft an einem schönen Tag vom Himmel gefallen sein, dann waren es tatsächlich nur zwei Menschen oder Affen oder Fische …, nämlich eine Mutter und ein Vater.

Nachtrag: Inzwischen haben sich Wissenschaftler mit dieser Frage beschäftigt und sind zu einer überraschenden Erkenntnis gekommen: Ahnenforschung