Ahnenforschung

Die eingangs vorgestellte Formel ist richtig und doch falsch. Etliche Mathematiker haben sie geprüft, so musste ich es zum Glück nicht noch einmal machen. Einer von ihnen war Oskar Schlömilch. Er hat die Sache zu Ende gerechnet und ermittelte die Anzahl der Personen, die vor gut 340 Jahren gelebt haben. Sie wären aus unserer Sicht unsere 62. Ahnengeneration und würden rund 4,6 Trillionen direkte Vorfahren darstellen. Wohlgemerkt für jeden von uns. Spätestens da kommen dann Zweifel auf, denn die hätten gar keinen Platz auf der Erde gehabt. Selbst wenn jede Insel in den Ozeanen genutzt hätten, würde der Platz nicht reichen. 

Hat sich Oskar Schlömilch verrechnet? Nein, der Fehler liegt woanders. Die Zahl ist rein theoretisch, praktisch jedoch haben wir es mit jeder Menge Ahnenschwund zu tun und das ist gut so. Damit ist nicht etwa ein vorzeitiger Tod gemeint, in dem Fall hätte der Vorfahre sich gar nicht mehr reproduzieren können und wäre niemals unser Ahne geworden, nein, gemeint ist die Doppelfunktion vieler Vorfahren. Sobald ein Cousin seine Cousine heiratet, egal ob ersten oder zweiten Grades, nehmen beide eine doppelte Funktion in unserem Stammbaum ein. Dadurch reduziert sich die Zahl der Personen deutlich.

Besonders häufig geschieht diese Ehe unter Verwandten in adligen Kreisen. Sie haben deshalb eine deutlich geringere Anzahl Vorfahren als andere Menschen. Jemand hat das mal beim preußischen König nachgerechnet. Friedrich der Große sollte theoretisch 64 Personen in der sechsten Vorfahrensgeneration haben. Und genau so ist es auch, aber davon sind nur 35 damals neu in die Familie gekommen. Alle anderen waren bereits Familienangehörige und dürfen deshalb nicht noch einmal gezählt werden. Sein Ahnenverlust beträgt hier ca. 45 Prozent und verfolgt man den gut dokumentierten Stammbaum weiter zurück, dann kommen wir auf einen Verlust von 73 Prozent, wenn wir bis zur 12. Generation zurückblicken.

Bei den bürgerlichen Familien ist es nicht viel anders und schon gar nicht in bäuerlichen Familien, die oft über Generationen auf denselben Höfen, am selben Ort gelebt haben. Komplexer sind die Berechnungen, die von Wissenschaftlern vor einigen Jahren mithilfe von Computer-Programmen durchgeführt wurden. Sie haben ihre Ergebnisse im Wissenschaftsmagazin ‚Nature‘ veröffentlicht. Sie wollten wissen, ob man auf einen ‚Urvater‘ trifft, wenn man nur genug Generationen zurückverfolgt. Eigentlich war die Antwort schon vorher klar, denn es muss eine Person geben, die am Anfang aller Ahnenreihen steht. Die große Überraschung war dann aber die Zeitdauer, denn die betrug lediglich 2.300 Jahre. Also kurz vor Christi Geburt gab es bereits einen universellen Vorfahren, der im Stammbaum jedes heute lebenden Menschen auftaucht. 

 

Ein winziger Ausschnitt aus der Verwandtschaft von Königin Victoria. Gerade mal drei Generationen sind hier zu sehen. Würde ich die Ahnen der Ehepartner hinzufügen, wäre es ein echtes Wimmelbild. Trotzdem sieht es bei uns nicht anders aus und irgendwie sind wir alle mit dünnen Fäden miteinander verbunden. Ist das nun beruhigend oder eher angsteinflößend?

 

Eigentlich kaum zu glauben, bestätigt aber die Erfahrung jedes Familienforschers. Sucht man gründlich genug, taucht mit Sicherheit irgendwann Karl der Große auf. Bei den Engländern ist es stets König Heinrich III. Da muss man gar nicht tricksen, die Ahnenfolge ergibt sich zwangsläufig, wegen der hohen Anzahl der Vorfahren. Und genau das ist dann auch schon die Erklärung für das verblüffende Ergebnis der Forscher. Sie haben völlig korrekt die genealogischen Vorfahren durchsucht, was aber nicht gleichbedeutend mit der genetischen Verwandtschaft ist. Mit anderen Worten, auch wenn wir alle einen gemeinsamen Urvater haben, der vor noch gar nicht so langer Zeit auf der Erde lebte, so sind wir noch lange nicht genetisch miteinander verwandt. Wem es auf die Genetik ankommt, der muss sich an die Ur-Mutter halten und darf nur die weiblichen Nachkommen berücksichtigen. Warum? Ganz einfach deshalb, weil nur die Frauen ihre Mitochondrien DNS an die Kinder weitergeben. Nur diese sind resistent gegen Mutationen und können deshalb bis zur Ur-Eva zurückverfolgt werden. Die unzähligen DNS Informationen des Vaters können schon nach wenigen Generationen verschwunden sein und deshalb dann auch wirkungslos. 

Ich mache mir um diese Feinheiten keinen Kopf, im Gegenteil. Ich versuche die Stammbäume korrekt zu erstellen, bin mir aber stets bewusst, dass nicht jeder Vater der Erzeuger des Kindes war. Mein Stammbaum lässt sich lückenlos bis auf den Reformator Martin Luther verfolgen. Allerdings nur auf dem Papier, denn wer sagt mir denn, dass kein Kuckuckskind in der langen Folge versteckt ist. Und sollte es so sein, dann fällt das mühsame erarbeitete Konstrukt wie ein Kartenhaus zusammen. Andererseits erfreue ich mich auch gerne mal an ‚Seiteneinsteiger‘. Stiefmütter mit bemerkenswerter Ahnenfolge. Die baue ich dann gerne in meinen Stammbaum ein und schon kann ich eine verwandtschaftlich Verbindung mit dem englischen Königshaus nachweisen. Im Grunde kein Betrug, allerdings eben keine genetische Verwandtschaft. Aber so genau fragt keiner nach und deshalb konnte ich sie bisher noch alle verblüffen.

 


 

Hier ein Beispiel. Auf diesen Seiten schreibe ich oft über Edward Solly. Ein Großkaufmann und bedeutender Kunstsammler, geboren in London und (wie schön) mit mir verwandt. Seine Verbindung zur Königin Victoria ist überraschend direkt und kurz. Durch sie ist er natürlich auch mit allen anderen Mitgliedern des Königshauses verwandt. Allerdings nur verwandtschaftlich, nicht genetisch. Für mich reicht das also nicht, um eine Einladung für die Krönungsfeier von König Charles zu bekommen. Nun ja, man kann nicht alles haben.